Auf den Spuren des Bauhaus
Gastbeitrag von Dagmar Reiche
„Wo kommen Sie denn her?“ – „München, Hamburg, Bodensee, Zürich, Innsbruck, Berlin, Ammersee.“ Die Augenbrauen rutschen etwas nach oben. „Und was machen Sie beruflich?“ Die Antworten purzeln durcheinander: „Kursleiter, Schriftsetzerin in Ausbildung, Buchgestalterin, Autorin, Künstlerin, Grafikdesignerin, Webdesigner, ehemaliger Vertriebsleiter im Verlag.“ Freundliches Lächeln, überraschter Blick. „Und was verbindet Sie?“ Nun, darauf gibt es endlich eine eindeutige Antwort: „Die Liebe zur Typografie“.
Diese Art des Dialogs begleitet uns durch die 4 Tage Exkursion in Weimar, Leipzig und Dessau. Wir, das sind 10 ehemalige Absolvent:innen des 2-jährigen Seminars „Typografie intensiv“, die Kursleiter:innen Rudolf und Dagmar Gorbach und ein buchbegeisterter Nachbar. Einige von uns kannten sich vorher durch den Kurs, andere lernen sich auf der Zugfahrt von München nach Weimar oder bei den angeregten Diskussionen im Laufe der Tage kennen. Das Programm ist voll gepackt, minutiös organisiert von Rudolf Gorbach. Ich steige Donnerstag gegen neun Uhr morgens in den ICE und bin gespannt.
Erster Tag: Auf nach Weimar
Wir kommen mittags an, zumindest diejenigen, die nicht von Hamburg aus anreisen. Diese beiden werden aufgrund von Bombenfunden, Betriebsstörungen und anderen unerquicklichen Gründen erst Stunden später eintreffen und deshalb den ersten Programmpunkt verpassen: Nein, nicht den schnoddrigen Mangel an Freundlichkeit, den wir mehrfach erfahren, sondern den Besuch im 2019 eröffneten Bauhaus Museum. Die Gebäudeästhetik wird von uns unterschiedlich empfunden – ich mag seinen Mut mit dem Statement der Positionierung und der Blickachsen. Spannend auch, dass eine nahezu unbekannte Architektin den Wettbewerb gewonnen hatte, diese Entscheidung imponiert mir. Die uns führende Dame ist kompetent und gut gelaunt. Die Exponate sind zahlreich, ich finde die Sortierung nach Schwerpunktthemen interessant und bedenkenswert. Besonders heiß diskutieren wir den Einsatz der Schrift auf den verschiedenen Etagen. Gelungen oder nicht? Passend, lesbar, manieriert? Zu viel des Guten oder genau richtig? Versteht jemand, was es mit dem Ändern der einzelnen Buchstaben auf sich hat, wird das überhaupt wahrgenommen?
Die Ausstellung der vergessenen Bauhausfrauen hat für mich eine persönliche Bedeutung. Ich kenne eine Frau, deren Großmutter eine dieser Frauen war. Sie hatte mir erst vor wenigen Wochen ihre Geschichte erzählt. Und jetzt stehe ich hier. Ich schicke ihr ein Foto, es ist ein besonderer Moment.
Ich würde gerne noch verweilen, doch schon geht es weiter. Draußen beleben Skater und Familien den Vorplatz, ich mag das Gewusel, das das Museum Teil des Stadtlebens werden lässt.
Pünktlich um 17.00 Uhr treffen wir uns alle in der Herzogin-Amalia-Bibliothek. Auch hier geleitet uns eine kompetente Dame durch die Räume – die alten wie auch die neuen. Von dem verheerenden Brand 2004 sieht man auf den ersten Blick nichts mehr. Unvorstellbar: Mehr als 50.000 Bücher waren den Flammen zum Opfer gefallen, über 100.000 teilweise so schwer geschädigt, dass sie kaum reparabel waren. Die Geschichten, die wir hören, gehen zu Herzen. Stellen Sie sich vor, Sie müssen sich für zwei ihrer Kinder entscheiden und die anderen den Flammen überlassen. Genau das passierte dem damaligen Leiter – er durfte eines, der Feuerwehrmann ein zweites Buch auf dem Armen durch die Flammen nach außen tragen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, als Buchliebhaber sich für die beiden wertvollsten Werke der Sammlung entscheiden zu müssen. Aber auch schöne Geschichten gibt es zu hören. So ist als Folge des Brandes eine riesige Expertise zur Bücherrestauration entstanden – die heute weltweit zum Einsatz kommt. Unterirdisch geht es zu den neuen Leseräumen, mit wunderbarer Atmosphäre.
Ich würde gerne noch verweilen, doch schon geht es weiter. Ein erneuter Fußmarsch quer durch die wunderschöne Altstadt führt uns zur Pavillon Presse, ein Druckgrafisches Museum in einem der ältesten erhaltenen Häuser Weimars. Früher war es Teil eines Verlags- und Druckerei-Standort, heute zeigt ein Verein Druckformen, Schriften und Maschinen aus mehreren Jahrhunderten. Anschließend ist der Kopf gefüllt, der Bauch meldet sich. Beim anschließenden Essen machen wir erneut Bekanntschaft mit der interessanten Servicementalität vor Ort. Doch auch das kann uns nicht aus der Ruhe bringen, gibt es doch wichtigere Dinge zu diskutieren.
Zweiter Tag: Leipzig, dann nach Dessau
Nach dem Frühstück bringt uns der Zug nach Leipzig. Das Programm ist wieder sportlich. Erste Station: das Schrift und Buchmuseum. Auch hier werden wir wieder sehr herzlich empfangen und kompetent durch die Räumlichkeiten geführt. Die Ausstellungsräume, der Lesesaal, hinüber vom modernen Trakt in den alten Teil und dann hinab in das Kellergeschoss – wir kommen kaum zum Verschnaufen. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hingucken soll, alles ist so voller Geschichten und Geschichte. Die Mittagspause wird sehr knapp, weil wir alle noch gern das Angebot annehmen, in der wunderbaren Sammlung von Schriftmusterbüchern zu stöbern. Da lacht das Typograf:innenherz. Ich bin sehr berührt von der Umsichtigkeit, uns diesen Leckerbissen zu servieren.
Nach einer kaum nennenswerten Pause finden wir uns im Leipziger Druckmuseum ein. Ein Ritt durch die verschiedenen Zeiten der Druckhistorie und -techniken, auch hier wie schon gewohnt kompetent und mit viel Herzblut. Wir schauen zwei Künstlerinnen über die Schulter, die ihre aktuellen Editionen drucken und bereitwillig etwas dazu erzählen. Die Hebel und Knöpfe an den verschiedenen Maschinen üben eine riesige Faszination aus – nicht nur wegen der beeindruckenden Technik, bei der so viele Kleinigkeiten durchdacht sind und perfekt zusammenspielen. Sondern sie faszinieren mich auch als Künstlerin wegen ihrer Linien und Formen, die so fein komponiert wirken und grafische Qualität besitzen.
Gern würde ich auch hier noch verweilen, doch wieder geht es weiter. Zum Bahnhof, mit dem Zug nach Dessau. Nach dem Einchecken im Hotel – auch hier nicht ohne bemerkenswerte Einlagen des Serviceverständnisses – machen wir uns abends auf den Weg zu einem denkwürdigen Dinner. LPs als Tischsets, Schnitzel hängend am Galgen serviert, Salat in Form einzelner Blätter, in Glasphiolen gesteckt, die jede mit einem anderen Essig gefüllt sind – die Kreativität des Kochs ist unbeschreiblich. Das Beste: Das Essen schmeckt sogar. Und wir werden ausnehmend zuvorkommend bedient. Ein wunderbares Ambiente für angeregte Gespräche.
Dritter Tag: Dessau – von früh bis spät
Wir treffen uns vormittags zu einer Bauhaus-Führung. Das, worauf wir uns wohl alle am meisten gefreut haben. Ich auf jeden Fall. Und als ich dann hier stehe, wirklich in den Räumen des Bauhaus, kann ich es kaum glauben. Hier, wo Wegweisendes, weltweit Prägendes entstanden ist, was noch heute, 100 Jahre später, modern und experimentell anmutet. Wo Kunst, Handwerk und Architektur zusammen gedacht wurden. Wo Visionen entstanden, die noch immer nachwirken. Ich bin wirklich tief berührt und muss mich mehrmals kneifen, um mich zu versichern, dass ich nicht träume. So viele Ecken und Winkel, die zum Schauen und Fotografieren einladen. Es ist seltsam, in solch einer Ikone zu stehen, von der man meint, schon alles vorher in Fotos, Filmen, Büchern gesehen zu haben. Und dann, vor Ort, ist alles doch ganz anders. Auch hier wieder ein Mensch, der uns mit viel Wissen und vor allem Herzblut durch die Örtlichkeiten führt. Fast am meisten beeindruckt mich die Geschichte der weltweit wohl ersten Durchreiche. Sie war zwischen Küche und Mensa eingebaut worden. Der Grund: Warum sollte man die Menschen, die für die anderen arbeiten, verstecken? Man kann doch auf Augenhöhe kommunizieren. Wie wunderbar: Designentscheidungen zu treffen, weil sie gut für das menschliche Miteinander sind. All die Eindrücke zu schildern, wäre einen eigenen Blogartikel wert – mindestens. Aber es gibt glücklicherweise viel gute Literatur zum Thema.
Nachmittags dann ein Besuch im Bauhaus-Museum in Dessau. Es ist toll, nach dem morgendlichen Besuch vor Ort, all das noch einmal kompakt an anderer Stelle und historisch aufgearbeitet zu sehen. Produkte aus den verschiedenen Werkstätten, Portraits der verschiedenen Studierenden und Professor:innen. Nachdem ich die Interviews mit Studierenden gehört und den Zusammenschnitt vieler Fotos angeschaut habe, denke ich das erste Mal in meinem Leben, dass ich – zumindest kurz – gern mal in der Vergangenheit gelebt hätte. Ich wäre gern ein Teil dieser Gemeinschaft gewesen.
Abends dann noch einmal ein Platz mit Geschichte – das Kornhaus am Ufer der Elbe. Leider ist es bereits dunkel, sodass wir die Architektur mit ihrer Verortung nicht so richtig bewundern können. Aber das Essen ist lecker und wir können wieder ungehemmt reden und lachen.
Vierter Tag: Dessau – und zurück nach Hause
Das Herbstwetter zeigt sich weiterhin so klar wie das Bauhaus, sodass ich das Frühstück ausfallen lasse und einen Spaziergang zum Kornhaus mache. Ich möchte es unbedingt nochmal bei Tag sehen – mitsamt seinem traditionsreichen Kiosk, in dem müde Wanderer sich jahrzehntelang mit Bockwurst und Brause stärken konnten. Später entdecke ich auf dem Weg ein unscheinbares Haus, im dem Walter Gropius eine Zeitlang wohnte. Dann zur letzten gemeinsamen Station – den Meisterhäusern. Erneut eine begeisterte Führerin, die nicht nur spannend erzählt, sondern mit ihrer offen geäußerten Meinung Haltung beweist. Auch hier überkommt mich immer wieder ein seltsames Gefühl. Wie nenne ich es? Vielleicht Erhabenheit? In dem Raum zu stehen, in dem Kandinsky gewohnt und den er aus Sicht von Walter Gropius mit seinem plüschigen Sofa so verschandelt hatte, dass seine Innenräume auf keinem der PR-Fotos zu sehen waren. Oder im Atelier zu sitzen, in dem Paul Klee gemalt hat, im Winter (wie alle anderen) auch mit kaltgefrorenen Fingern – die Häuser waren zwar sehr modern und komfortabel, allerdings nicht sonderlich gut isoliert. Auch hier: So viele Blickachsen, die mich immer aufs Neue dazu inspirieren, genau hinzuschauen und zu fotografieren.
Schwups sind die prall gefüllten Tage vorbei. Nach einem letzten Kaffee im Bauhaus-Café eilen wir zum Bahnhof und machen uns wieder auf den Weg in alle Himmelsrichtungen. Ich bin bis zur Nasenspitze gefüllt mit Impressionen, Bildern, Informationen.
Die Papiertüte mit all dem Material, das ich von der Exkursion mitgebracht habe, steht noch neben meinem Schreibtisch. Ich mag sie noch gar nicht auspacken – das würde vielleicht einen Schlusspunkt setzen, unter eine Reise, die für mich noch gar nicht zu Ende ist. Dass Rudolf Gorbach sich diese für uns ausgedacht und organisiert hat, ist ein riesiges Geschenk, über das ich mich noch immer jeden Tag freue. Die Liebe zur Typografie ermöglicht auch, dass eine heterogene Gruppe vier intensive, erfüllende Tage miteinander verbringt, ohne dass ihr jemals der Gesprächsstoff ausgeht.
Dagmar Reiche (www.kunstreiche.de)
Fotos: Dagmar Reiche, Dagmar Natalie Gorbach, Astrid Baldauf